Von Friedrich Hasse  |  in Buchrezensionen

Speed Reading-Rezension #2: „Speed Reading“ (T. Buzan)

Foto: Goldmann Verlag, Random House, www.randomhouse.de/Verlag/Goldmann/4000.rhd

Tony Buzan ist vor allem für seine in den 1960er Jahren entwickelte « Mindmapping »-Technik bekannt. Gleichzeitig prägte er den Begriff « Speed Reading », der über sein gleichnamiges, 1971 erstmals in Englisch erschienenes Buch quasi zum Synonym für effiziente Lesetechnik wurde. (…deshalb nennt sich diese Website auch « speedreading.berlin », obwohl wir diesen Begriff sonst nur unter Vorbehalt verwenden.) 1984 gründete Buzan die bis heute stattfindenden „World Speed Reading Championships“ – einen internationalen Wettbewerb für Schnelllesen. Die nachfolgende Rezension lädt somit auch dazu ein, das alltägliche Verständnis von « Speed Reading » bzw. « Lesetechnik » zu hinterfragen und mit dem hier vertretenen Improved Reading-Ansatz zu vergleichen.

Stärken/Pluspunkte von Tony Buzans « Speed Reading »

  1. Die wichtigsten Lesefehler – Subvokalisieren, Regression und Wort-für-Wort-Lesen – werden korrekt benannt (Teil III). Positiv herzuheben ist insbesondere der Hinweis, dass das Subvokalisieren « nicht vollständig eliminiert werden kann und sollte » (S. 199) – dies steht im Kontrast zu vielen anderen Lehrbüchern zum Thema « schneller lesen », in denen zwischen sinnvollem und überflüssigem Subvokalisieren gar nicht differenziert wird. Dieser Pluspunkt wird aber schon wieder relativiert durch die nachfolgende Behauptung, dass es dem Gehirn « durchaus möglich sei, 2000 WpM [Wörter pro Minute] zu subvokalisieren » und dass es « eine ganze Anzahl Leute » gebe, die « über 1000 WpM sprechen können » (S. 200) – jeder kann im Selbstversuch leicht feststellen, wie absurd das ist; selbst eingefleischte Rapper schaffen keine 1000 WpM.
  2. Eine Reihe nützlicher Hinweise finden sich zu angrenzenden Themen wie Konzentration und Motivation (ebenfalls Teil III, « Superkonzentration und Textverständnis ») sowie MindMapping, Absätze und Wortschatz (Teil IV, « Entwickeln Sie Ihre fortgeschrittenen Lesefähigkeiten »). Beim Thema « Absätze » fehlt allerdings der entscheidende Hinweis, dass nicht nur der Anfang eines Textes, sondern auch der Anfang eines Absatzes (bei Sachtexten) meist den Hauptgedanken enthält. Nützlich – gerade für jüngere Leser – ist die umfassende Auflistung lateinischer, griechischer und englischer Prä- und Suffixe sowie Wortwurzeln, die das eigenständige Erschließen von Fremdwörtern erleichtern.
  3. Schließlich muss Buzan zugestanden werden, dass er es mit seinem Speed Reading-Buch und der von ihm entwickelten Speed Reading-Technik geschafft hat, dem Thema « Lesetechnik » ein gewisses Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zu verschaffen, als dies noch kaum jemanden interessierte. Sicherlich mag es auch eine Anzahl Menschen geben, bei denen diese Techniken in einer bestimmten Weise funktionieren, sonst hätten sie wohl keine derartige Verbreitung erfahren. Heute sind wir jedoch weiter als im Jahr 1971, als es noch kaum wissenschaftliche Untersuchungen rund um Lesegewohnheiten und effiziente Lesetechnik gab; die aktuellen Befunde legen nahe, dass die in Buzans « Speed Reading »-Buch aufgestellten Behauptungen nicht haltbar sind (s.u.).

Schwächen/Minuspunkte von Tony Buzans « Speed Reading »

  1. Ein Hauptkritikpunkt ist, dass das Buch vollkommen überzogene Erwartungen weckt, die vor allem eins bewirken werden: dass viele Menschen mit « Lesetechnik » eine unrealistisch hohe Geschwindigkeit und entsprechend niedriges Textverständnis assoziieren – oder das Thema gleich als esoterisch und unseriös abtun. So ist ein ganzes Kapitel (« Auf dem Weg zum Superleser : Die Speed-Reading-Hitliste ») der stark suggestiven Auflistung von extrem schnell lesenden historischen Ausnahmepersönlichkeiten gewidmet (« Fantastische Speed Reading-Geschichten »); gleich zu Anfang wird behauptet : « Große Künstler, Denker, Wissenschaftler und einige Präsidenten lesen mit Geschwindigkeiten von über 1000 WpM. Sie können das auch. » (S. 118, eig. Hervorhebung) Oder an anderer Stelle : « Geschwindigkeiten von über 1000 WpM sind auf jeden Fall erreichbar » (S. 135).

    In meiner über 13-jährigen Berufspraxis als Lesetrainer meine ich, ein Gespür für mögliche und unmögliche Lesegeschwindigkeiten entwickelt zu haben : Die überwiegende Mehrheit meiner Kursteilnehmer verdoppelt ihr ursprüngliches Lesetempo in etwa und erreicht zwischen 400 und 600 WpM bei gutem Textverständnis. Zwischendrin experimentieren manche auch mal mit 1.000 WpM oder mehr, verstehen dabei aber in aller Regel kaum noch etwas. Die meisten empfinden es zudem als erleichternd, nicht im Wettbewerb mit vermeintlichen oder tatsächlichen « Genies » zu stehen, sondern einfach ihr individuelles Potenzial zu entwickeln, ohne sich vergleichen zu müssen – darum sind wir auch keine Freunde von « Schnelllese-Wettbewerben ».

    Vielleicht bezieht sich die Aussage « Sie können das auch ! » aber gar nicht auf wirklich gutes Textverständnis, sondern eher auf einen oberflächlichen Gesamteindruck ? Das wäre allerdings ziemlich « gemogelt », zumal in diesem Kapitel durchgängig der Eindruck erweckt wird, dass es sich um « richtiges » Lesen handle – vollständig und mit gutem Verständnis.

    Einer der führenden Leseforscher Deutschlands, Prof. Ralph Radach von der Uni Wuppertal, beschreibt in einem Interview mit der Website dasgehirn.info Nutzen und Grenzen von « Speed Reading »-Techniken : Als sinnvolle Technik wird hier die systematische Aufnahme von Wortgruppen (ca. drei Wörter auf einmal) empfohlen – eine der zentralen Improved Reading-Lesetechniken, die wir auch als « Chunken » oder « Sinngruppen-Lesen » bezeichnen. Gleichzeitig erläutert Prof. Radach, dass jede Fixierung des Auges, mit der eine solche Wortgruppe klar erfasst werden kann, zwischen 200 und 300 Millisekunden beansprucht, also im Schnitt etwa eine Viertelsekunde. Rein rechnerisch ergibt sich daraus, dass pro Sekunde 12 Wörter und pro Minute 720 Wörter optisch klar erfasst werden können – das ist von den von Buzan versprochenen « über 1.000 WpM », die angeblich jedem möglich seien, ein gutes Stück entfernt. Gleichzeitig kann nicht davon ausgegangen werden, dass auch die 720 WpM durchgängig über längere Zeit aufrechtzuerhalten sind, erst recht nicht bei anspruchsvoller Lektüre. Die in unserem Training von den meisten Teilnehmern erzielten 400-600 WpM (50-100% Steigerung gegenüber dem Ausgangswert) scheinen mir hingegen ein realistischer Wert zu sein.

  2. Buzan benennt zwar die drei Hauptlesefehler (Regression, Wort-für-Wort-Lesen, vollständiges Subvokalisieren) und die an ihrer Statt zu trainierenden Techniken (« Chunken », d.h. Erfassen von Sinngruppen, Ausrichtung nach vorn und selektives Subvokalisieren). Mit diesen Basisvoraussetzungen für effizientes Lesen hält er sich jedoch nicht lange auf – ihnen sind kaum zehn von 350 Seiten gewidmet. Schwerpunkt seines Buches sind die sog. « Meta-Lesetechniken » oder « Fortgeschrittenen Lesehilfe-Techniken », die mit Sinngruppen-Lesen nichts mehr zu tun haben, insofern hier große Textflächen auf einmal erfasst werden sollen (S. 137-148).

    So gelangt Buzan zu dem phantastischen Geschwindigkeits-Versprechen, über 1.000 WpM seien « jedem möglich ». Die von ihm anempfohlenen Blick-Techniken erlauben jedoch rein anatomisch gar keine optisch vollständige Texterfassung, sondern laufen im Wesentlichen auf « gehobenes Querlesen » hinaus. Speed Reading, wie Buzan es versteht, wird ausdrücklich mit der Funktion des rein peripheren Sehens verknüpft, das von den « Stäbchen » genannten Sehzellen ermöglicht wird. In der Peripherie lassen sich jedoch nur grobe Umrisse und Bewegungen erkennen.

    Scharfes (sowie auch farbliches) Sehen und damit Lesen im engeren Sinn erfordert den Beitrag der « Zapfen » – diese andere Art Sehzellen ist viel weniger zahlreich (6 Mio. im Verhältnis zu 120 Mio. Stäbchen) und erreicht ihre höchste Dichte in der « Fovea », dem Punkt des schärfsten Sehens auf der Netzhaut. In einem Umkreis von einem halben Millimeter rings um die Fovea sind etwa gleich viele Zapfen wie Stäbchen angesiedelt, so dass hier ein sog. « parafoveales Sehen » möglich ist, das zur Worterkennung gerade noch ausreicht. Jenseits davon nimmt die « Zapfen-Dichte » rapide ab, und Texterfassung sowie -verständnis sind nicht mehr möglich. In der heutigen Leseforschung wird davon ausgegangen, dass etwa drei Wörter auf einmal parallel verarbeitet werden können (siehe das bereits oben erwähnte Interview mit dem führenden Leseforscher Deutschlands Prof. Ralph Radach).

    Wie « schnell lesen ohne querzulesen » funktioniert, ist auch hier nachzulesen.

    Die von Buzan empfohlenen « Meta-Techniken » mit extrem hohen Geschwindigkeiten im vierstelligen WpM-Bereich (bei gleichzeitig hohem Textverständnis) sind aus wissenschaftlicher Sicht hingegen nicht realistisch – zumindest für normal begabte Menschen, unter normalen Alltagsbedingungen und mit einem akzeptablen Trainingsaufwand von z.B. zwei Tagen.

  3. Abgesehen von dem stark suggestiven und wissenschaftlich zweifelhaften Charakter der Buzanschen Empfehlungen fällt auf, dass das Buch keinerlei didaktisch durchdachtes, systematisches Trainingskonzept enthält. Hier und da wird empfohlen, diese und jene Technik zu üben, ein paarmal wird eine sog. « Wahrnehmungsübung » eingestreut (jedoch ohne klare Zielvorgaben), und ein paar Lesetests gibt es auch – aber ansonsten fühlt man sich als lernwilliger Leser ziemlich alleingelassen. Die Techniken als solche werden in dürren Worten beschrieben, aber es erfolgen kaum Hinweise und Übungen, wie sie sich denn trainieren lassen. Seit Jahrzehnten eingefleischte Lesegewohnheiten sind hartnäckig, und der Veränderungsprozess kann durchaus von Höhen und Tiefen begleitet sein – da ist es mit der schlichten Empfehlung, die empfohlenen Techniken einfach umzusetzen, nicht getan. Erforderlich wäre es, Zwischenschritte aufzuzeigen, konkrete Zielvorgaben zu machen, das « Loslassen » von perfektionistischen Blockaden zu üben, die Lernkurve zu berücksichtigen usw. – so wie wir es in unserem Buch « Schneller lesen – besser verstehen » (Wolfgang Schmitz, Rowohlt) versucht haben, das wohl auch deshalb zum Lesetechnik-Bestseller im deutschsprachigen Raum avanciert ist.

Fazit:

« Speed Reading » von Tony Buzan weckt unrealistisch hohe Erwartungen, die vom heutigen Stand der Leseforschung nicht gedeckt sind. Wirklich gutes Verständnis kann von den im Buch schwerpunktmäßig empfohlenen « Meta-Lesetechniken » bei über 1.000 Wörtern pro Minute nicht erwartet werden. Damit hat dieses Werk – lange Zeit auch im deutschsprachigen Raum DER Bestseller zu Lesetechnik – leider wohl maßgeblich zu dem gängigen Missverständnis beigetragen, dass effiziente Lesetechnik zwangsläufig eine Art Querlesen auf Kosten des Textverständnisses sei. Die prinzipiell von jedem umsetzbaren Lesetechniken, die auf einer systematischen Ausnutzung des natürlichen scharfen (statt, wie bei Buzan, peripheren) Sehvermögens beruhen (Sinngruppen erfassen, nach vorn lesen, weniger innerlich mitsprechen) und die sowohl ein vollständiges Lesen als auch ein verbessertes Textverständnis ermöglichen, werden von Buzan nur am Rande erwähnt. Erst recht eignet sich das Buch nicht als Trainingsinstrument, weil es nur sporadische Übungen und Tests und keinen didaktisch ausgearbeiteten Trainingsplan gibt.

Tony Buzan : Speed Reading, Goldmann 2007 (engl. Erstauflage 1971)

Wie bewerten Sie unser Buch zu „Speed Reading“ im Vergleich zu dem hier besprochenen? Testen Sie uns, und schreiben Sie mir!

Schreibe einen Kommentar