Speed Reading funktioniert in der Muttersprache am besten, weil es immer einen automatisierten Wortschatz voraussetzt. Alle gängigen Speed Reading-Techniken, wie z.B. das „Chunken“ (mehrere Wörter gleichzeitig erfassen), die Vermeidung des Zurückspringens oder das Reduzieren der inneren Stimme (Subvokalisieren) erfordern eine hohe Vertrautheit mit dem jeweiligen Vokabular: Die Verbindung von Symbol und Bedeutung sollte möglichst automatisch erfolgen.
Aber heißt das, dass Speed Reading in Fremdsprachen gar nicht anwendbar ist – erst recht bei solchen, die man gerade erst lernt?
Bei meinem letzten Improved Reading-Kurs in Bozen/Bolzano (Südtirol) habe ich kräftige Fortschritte im Italienischen gemacht, mit dem ich mich schon lange in Trippelschritten vorwärtsbewegt habe – mit jedem Besuch in Italien, wo ich gelegentlich Improved Reading-Kurse in Englisch an verschiedenen Hochschulen gebe, ein paar Wörter und Sätze mehr. Gerade Bozen ist zum Italienisch-Lernen perfekt, weil die Stadt komplett zweisprachig ist und man wie in einem “begehbaren Vokabelheft” überall deutsche Begriffe samt ihrer italienischen Entsprechungen liest.
Italienisch lerne ich primär mithilfe des sehr professionellen und durchaus kurzweiligen, aber auch quälend langsam voranschreitenden “Rosetta Stone”-Programms (als nach ein paar Dutzend Kapiteln neulich immer noch “La televisione” und “Buon giorno!” abgefragt wurden, hätte ich das Programm auf den Mond schießen können) … zunehmend aber auch übers Lesen. In Bozen habe ich erstmals einen längeren Zeitungsartikel auf Italienisch gelesen und mein erstes italienisches Buch begonnen (ein – zugegeben – schmales Bändchen über die außergewöhnliche Architektur der Europäischen Akademie (EURAC), an der ich meinen Kurs gegeben habe).
Viel lesen, um Sprachen zu lernen
Der passive, gelesene Wortschatz ist von allen, über die wir verfügen (gesprochen, geschrieben, gehört, gelesen) der größte und am leichtesten zugängliche. Lesen in der Fremdsprache ist daher ein hervorragendes Tool für den Spracherwerb. Es versteht sich jedoch, dass man bei der Lesegeschwindigkeit Abstriche machen muss. Die meisten Lesegewohnheiten, die wir in unserem Ansatz als “Lesefehler” bezeichnen, sind in einer neuen Sprache, mit noch nicht “automatisiertem” Vokabular, absolute Notwendigkeiten: Wort-für-Wort-Lesen, vollständiges, inneres (oder gelegentlich auch lautes) Mitsprechen (Subvokalisieren) sowie häufiges Zurückspringen (Regression).
Schneller lesen – auch in der Fremdsprache?
Wenn ich fremdsprachige Texte lese, mache ich jedoch gute Erfahrungen damit, einen überschaubaren Abschnitt, ein kleines Kapitel oder auch nur einen einzelnen Absatz, zunächst relativ zügig zu lesen und dann etwas langsamer. Das zügige Lesen sollte kein bloßes Querlesen sein, sondern vollständige Texterfassung, wobei jedoch Wortgruppen statt bloßer Einzelwörter erfasst werden (“Chunking”-Technik bei Improved Reading). Dieses Verfahren bietet folgende Vorteile:
• Es macht mehr Spaß, weil man nicht ständig an schwerer verständlichen Einzelpassagen und Details steckenbleibt, sondern erst einmal den Grundgedanken versteht.
• Oft erübrigt sich ein Nachschlagen der noch unbekannten Vokabeln, weil sie eben aus dem Kontext heraus deutlich werden.
• Man differenziert zugleich stärker, was man überhaupt nachschlägt – man kann sich gleich auf strukturell wichtige Wörter konzentrieren, denen man häufiger begegnet.
Oft lese ich schon den ersten Satz eines Kapitels oder Absatzes zweimal hintereinander zügig, weil sich hier – gerade bei Sachtexten – meist die wichtigste Botschaft versteckt.
Übrigens betrachte ich Bücher nicht als Heiligtümer, sondern krakele gern hinein – vor allem die nachgeschlagenen Vokabeln, von denen ich das deutsche Wort am oberen Seitenrand, die fremdsprachige Entsprechung am unteren notiere. Das erleichtert Wiederholungen, die im Buch selbst viel leichter fallen und effizienter sind, weil hier die Vokabeln unmittelbar in ihrem gelernten Kontext erscheinen statt abstrakt in einem Vokabelheft.