Speed Reading
für Juristen – contra & pro
Speed Reading für Juristen? Kritischer Einwand eines Berliner Anwalts
In der „Neuen Juristischen Wochenschrift“, der bedeutendsten Zeitschrift für juristische Theorie und Praxis in Deutschland, erschien im April 2015 ein längerer Beitrag von Rechtsanwalt Dr. Thomas Ritter aus Berlin zum Thema „Zeithonorarabrechnung und Lesegeschwindigkeit“.
Ausgangspunkt war die Entscheidung des OLG Karlsruhe von August 2014, in der „ein anwaltlicher Stundensatz von 300 Euro netto als grundsätzlich zulässig festgestellt wurde“. Es schloss sich die Frage an, inwiefern der mit der anwaltlichen Tätigkeit verbundene Leseaufwand relevant für die Abrechnung ist. Und es wäre zu fragen, wie dieser Aufwand in der Abrechnung auszuweisen sei. Lesen macht gewiss einen erheblichen Teil der anwaltlichen Tätigkeit aus. Der Autor fragt sich daher: Hat der Mandant nicht ein Recht darauf, von seinem Anwalt ein möglichst hohes Lesetempo einzufordern? Ist also Speed Reading für Juristen nicht geradezu eine Pflicht?
Die Antwort von Rechtsanwalt Dr. Ritter aus Berlin lautet, kurz zusammengefasst: Nein. Das oberste Gebot für den Rechtsanwalt lautet schließlich: Er müsse genau das Verfahren wählen, welches „die größte Sicherheit der Zielerreichung verspricht, um vermeidbare Nachteile für seinen Mandanten zu verhindern“. Daraus ergebe sich aber „keinesfalls das Gebot größtmöglicher Lesegeschwindigkeit„. Im Gegenteil sei ein Lesetempo anzusteuern, welches „größtmögliche Exaktheit und größtmögliches Textverständnis„erlaube (eig. Hervorhebungen).
Juristische Texte nur langsam lesen? Einspruch!
Als langjährig erfahrener Speed Reading-Trainer nutze ich gern diese Gelegenheit, einige weit verbreitete Missverständnisse zu kommentieren. Diese betreffen den vermeintlichen Widerspruch zwischen schnellem und gründlichem Lesen. Meine Erfahrungen durfte ich u.a. an vielen Banken, Firmen, Beratungsagenturen, Bundesministerien und Behörden bis hin zum Kanzleramt sammeln. Fast überall gehört das Lesen juristischer Texte zum Alltag. Ist Speed Reading für Juristen sinnvoll oder nicht? Meine Antwort: ein klares „Ja“!
Zunächst seien die Textarten und Lesesituationen benannt, die Dr. Ritter zufolge typisch für den anwaltlichen Lesealltag sind:
- Vom Mandanten eingereichte Unterlagen, die vollständig und gründlich zu lesen seien.
- Die „im Rahmen der Sachverhaltsermittlung einschlägigen Rechtsnormen“, darunter „auch und gerade abgelegene Normen“.
- Literatur zur einschlägigen Rechtsprechung bzw. „bei fehlender Judikatur auch … Lektüre von einschlägigen Fachartikeln“ in Fachzeitschriften oder im Internet.
- „[N]ochmalige[s] Lesen der vom Mandanten überlassenen Schriftstücke vor dem Hintergrund der fallspezifisch konkretisierten Rechtskenntnisse“.
Offensichtlich haben es Rechtsanwälte also mit sehr unterschiedlichen Textarten und Lesesituationen zu tun. Die Bandbreite beginnt bei völlig unbekannten, schwierigen oder genaue Detailkenntnis erfordernden Texten. Und sie reicht bis zu den einfacheren oder bloß in den Grundzügen zu erfassenden Texten. Dort, wo sich der Jurist bereits gut auskennt, kann er/sie ohnehin viel schneller lesen oder bloß „scannen“. Daraus folgt bereits die Unmöglichkeit der dogmatischen Vorgabe eines einheitlichen Lesetempos – egal ob niedrig oder hoch.
Slow oder Speed Reading, je nach Text und Leseziel
Dieser Sachverhalt deckt sich vollständig mit unserer Auffassung davon, was Speed Reading für Juristen bedeuten könnte. Nämlich nicht „schnellstmögliches“, sondern flexibles Lesen. Unser Ziel ist die Anpassung von Lesetempo und -intensität an die jeweils gegebene Lesesituation, den Schwierigkeitsgrad des Textes und die eigene Fragestellung. Aus diesem Grund lautet unser Firmenname auch „Improved Reading“. Dies steht im Gegensatz zu „Speed Reading“ im Sinne eines bloßen Tempofetischismus.
Ja, effizientes Lesen heißt für uns auch eine deutliche Temposteigerung! Speed Reading für Juristen bedeutet geschätzt eine 20 bis 100%ige Steigerung der Lesegeschwindigkeit. Daher ist „Speed Reading“ unser Thema. Im Gegensatz zur gängigen Meinung erzielen wir das höhere Tempo allerdings nicht in erster Linie über bloßes Querlesen, Diagonallesen, „Mut zur Lücke“ oder „intelligentes Weglassen“. Solche Ansätze können durchaus teilweise auch sinnvoll sein. Aber eine der fundamentalen Techniken unseres Trainings ist das sog. „Chunken“, also das Bündeln von Wörtern zu Wortgruppen. Das ist der logisch nächste Schritt gegenüber dem vorherrschenden Wort-für-Wort-Lesen:
Speed Reading für Juristen? Heißt nicht (unbedingt) „Querlesen“
Dreh- und Angelpunkt für unser Verständnis von Speed Reading ist der Zusammenhang zwischen einem höheren Lesetempo und einem guten Textverständnis.
1.) Nicht das Weglassen von Text steht im Vordergrund, sondern das vollständige Ausschöpfen der natürlichen Blickspanne von ca. 3,5 cm. Demgegenüber engen wir unseren Fokus meist auf einzelne Wörter ein, weil wir das in der Grundschule so gelernt haben. Und danach haben wir in der Regel keine neue Lesetechnik bewusst hinzugelernt.
2.) Der Sinn eines Textes ergibt sich meist nicht aus Einzelwörtern, sondern erst aus dem Zusammenhang. Dafür ist es nötig, Wortgruppen als Ganzes zu erfassen („Chunking“).
Eine „bereits erhöhte“ Lesegeschwindigkeit des durchschnittlichen Lesers liegt Dr. Ritter zufolge bei 200-240 Wörtern pro Minute. Dabei geht er zugleich von einem Textverständnis von lediglich 50-70 % aus. Diese Werte decken sich ungefähr mit unseren eigenen Erfahrungen. In Deutschland haben wir seit 2001 über 30.000 Speed Reading-Teilnehmer in unseren Kursen geschult. Überdies haben mehrere Tausend Besucher unserer Website einen Speed Reading-Lesetest absolviert. Gleichzeitig kann man davon ausgehen, dass reines Wort-für-Wort-Lesen in etwa einem Lesetempo von 200 Wörtern pro Minute (WpM) entspricht. Somit entspricht ein annäherndes Wort-für-Wort-Lesen dem typischen Leseverhalten der meisten Menschen, vermutlich auch vieler Juristen.
Speed Reading für Juristen: Geringer Aufwand – großer Effekt
Falls Sie nicht mehr jedes Wort einzeln lesen, sondern nur zwei Wörter gleichzeitig, erzielen Sie – ceteris paribus – bereits eine Verdopplung Ihres Lesetempos. Setzen wir mal voraus, ein Anwalt müsse die schwierigen und gründliches Verständnis erfordernden Textteile weiterhin Wort für Wort lesen. Und gehen wir einmal davon aus, dass dies die Hälfte des gesamten Textmaterials betrifft. Sie lesen also bloß die andere Hälfte des Textes mit Chunking-Technik doppelt so schnell und immer noch vollständig. Dann ergibt sich bereits eine Steigerung Ihrer Lese-Effizienz um 25%. Zugleich ist das Chunken – das Erfassen sinnvoller Einheiten – in sich eine gute Basis für besseres Textverstehen.
Bezogen auf das von Dr. Ritter im Text genannte Beispiel: 50 Seiten Unterlagen, die etwa wie ein NJW-Editorial bedruckt sind (ca. 400 Wörter) entsprechen 20.000 Wörtern. Das sind 100 Minuten Leseaufwand bei 200 WpM Lesetempo. Wenn 10.000 Wörter mit 400 WpM gelesen werden, dauert dies 25 Minuten. Für die restlichen 10.000 Wörter, die Sie mit 200 WpM lesen, benötigen Sie weitere 50 Minuten. Daraus ergibt sich ein Gesamtaufwand von 75 Minuten, also eine um 25 Prozent verringerte Lesezeit.
Bei welcher anderen Alltagstätigkeit können Sie einen so hohen Effizienz-Gewinn in so kurzer Zeit erzielen?
Schnelles Lesen oft Voraussetzung für gutes Lesen
Die Berechnung ist noch recht konservativ gehalten, weil hier vorausgesetzt ist, dass ein erheblicher Teil des Textes noch Wort für Wort gelesen werden müsse. Tatsächlich ist aber ein überschaubares Bündeln von Wörtern dem Textverständnis sogar zuträglich. Gemeint ist übrigens nicht, ganze Absätze oder Seiten auf einmal zu überblicken, sondern lediglich ein paar Wörter – im genannten Beispiel sogar nur zwei!
Einen starken Zusammenhang zwischen Speed Reading und gutem Textverständnis legen auch folgende Überlegungen nahe:
1.) Speed Reading gegen abschweifende Gedanken
Wie häufig passiert es selbst einem lese-erfahrenen Rechtsanwalt, dass die Gedanken beim Lesen abschweifen? In vielen Fällen ist dies ein Signal dafür, dass das Gehirn zu wenig „Input“ erhält. Wir können prinzipiell nämlich 800 bis 1.000 Wörter pro Minute (WpM) verarbeiten; aber die meisten Menschen lesen nur 200-300 WpM. (Wenn Sie ihr eigenes Lesen testen wollen, klicken Sie hier für den Speed Reading Lesetest.) Es bleibt also zu viel „Gedankenmasse“ frei für andere spannende Themen. Oder Sie lassen sich von Einflüssen aus der Umgebung zu schnell ablenken. Es ist wie bei sehr langsamem Autofahren auf langen Strecken: Wir neigen dann viel eher zu Müdigkeit und Unaufmerksamkeit als bei einem höheren Tempo, das uns stärker fordert. (Das ist keine Aufforderung zum Rasen und auch keine Parteinahme gegen ein Tempolimit! ;-)). Probieren Sie es einfach aus: Wenn Ihre Gedanken abschweifen, lesen Sie schneller! Sie werden merken, dass Sie viel eher bei der Sache bleiben. Sie steigern gleichzeitig Textverständnis und Motivation.
2.) Besserer Überblick durch schnelles Lesen
In der Tat kommt es bei vielen anwaltlichen Texten auf genaue Detailkenntnis an. Es gibt jedoch Lesesituationen, in denen ein allzu perfektionistisches „Festkleben“ an Einzelfakten den Blick aufs „große Ganze“, auf übergeordnete Zusammenhänge, unterschwellige Botschaften und Meinungen, etc. gerade verstellt (man sieht „den Wald vor Bäumen nicht mehr“). Solchen Lesezielen würde ein – mit gezielten Speed Reading-Techniken untermauertes – überblickendes, überfliegendes oder fokussierendes Lesen entsprechen und gerade nicht das Wort-für-Wort-Lesen.
3.) Speed Reading = flexibel lesen
Meiner langjährigen Erfahrung nach sind die meisten Menschen – nicht nur Rechtsanwälte – in ihren jeweiligen Lesegewohnheiten relativ „festgefahren“. Sie reflektieren diese kaum, sondern lesen einfach, wie sie es gewohnt sind. Je nach Charakter kann dies bedeuten, entweder eine sehr gründliche oder eine eher überfliegende Haltung einzunehmen. Das mag in vielen Fällen passen. Aber immer nur auf eine Art zu lesen, kann nicht die richtige Antwort auf die Info-Flut sein. Speed Reading, wie wir es verstehen, bedeutete daher gerade einen bewussteren und flexibleren – den fest verankerten Routinen durchaus zuwiderlaufenden – Einsatz des jeweiligen „Handwerkszeugs“.
4.) Speed Reading für Juristen = mehrstufig lesen
Dr. Ritter schreibt, es sei Zeitverschwendung, einen juristischen Text schnell zu lesen…und dann nochmals lesen zu müssen. Wir gehen allerdings davon aus, dass gerade die schwierigen Texte eine mehrstufige Strategie oft unabdingbar machen. Man beginne z.B. mit einer Vorausschau, um sich einen Überblick zu verschaffen. Anschließend lese man den Text relativ zügig, um die Hauptgedanken zu erfassen. Am Ende erst steige man in die detailgenaue, gründliche Lektüre ein. Die Erfahrung zeigt, dass man schwierige Texte meist ohnehin mehrfach liest. Oft geschieht dies aber „ungewollt“: Die Gedanken schweifen ab, weil wir zu langsam lesen.
Wenn man sich aber von dem perfektionistischen Anspruch verabschiedet, gleich beim ersten Mal alles verstehen zu müssen, bedeutet dies vor allem eine psychologische Entlastung. Gleichzeitig liest man viel motivierter – und im Endeffekt wohl immer noch viel schneller. Denn auch beim mehrfachen Lesen muss man nicht unbedingt alle Textteile doppelt lesen. Vor allem sind Sie sicher überrascht, wie viel Sie trotz (oder wegen?) Ihres höheren Lesetempos schon beim ersten Mal verstanden haben. Voraussetzung ist natürlich, dass Sie nicht einfach „besinnungslos“ auf Lücke lesen. Stattdessen wenden Sie bewusste Techniken an, besonders das „Chunken“.
5.) Speed Reading für die Recherche juristischer Texte
Dr. Ritter berichtet aus der Praxis, dass der Leseaufwand weit über das vom Mandanten eingereichte Material hinausgehen kann. Schnell fühlt man sich als Anwalt „zugeschüttet“ (s.o.). Daraus folgt unmittelbar die Notwendigkeit einer effizienten Recherche. Der Jurist muss die Textfülle zunächst selektieren, hierarchisieren und gewichten. Und dafür sind Speed Reading-Techniken geradezu unabdingbar. Vor allem wird aber klar, dass ein perfektionistischer Anspruch gar nicht haltbar ist. Jeden halbwegs relevanten Text zu 100% verstehen wollen – das muss zwangsläufig dazu führen, dass man zahlreiche andere Texte gar nicht liest. Aber vielleicht sind darunter ja sehr viel wichtigere? Speed Reading für Juristen kann somit helfen, eine sehr viel breitere Wissensbasis zu erschließen. Und punktuell auch in die Tiefe zu gehen.
Fazit: Speed Reading für Juristen – ja! Aber kein Zwang zum Schnelllesen
Daher widerspreche ich Dr. Ritters kategorischer Aussage „Juristisches Lesen ist langsames Lesen“. Speed Reading für Juristen ist durchaus ein sinnvolles Mittel effizient zu arbeiten – zumal in einem äußerst leseintensiven Beruf. Selbstverständlich ist Lesen, genau wie Dr. Ritter schreibt, höchst individuell und von Fall zu Fall ganz verschieden. Keinesfalls dürfen daher äußere Normen hinsichtlich des Lesetempos an einen Anwalt herangetragen werden.
Von einem qualifizierten Speed Reading Training profitieren jedoch beide Seiten auf ihre Art:
– Der Mandant ist auf eine effiziente Nutzung der von ihm bezahlten anwaltlichen Arbeitszeit bedacht.
– Der Anwalt/Die Anwältin fühlt sich oft genug von der Informationsflut „erschlagen“ und zeitlich ohnehin überlastet. Das Schöne für ihn/sie: Er/sie muss gar nicht komplett anders lesen als sonst. Es reicht, das gewohnte Lesen hin und wieder zu variieren und punktuell um Speed Reading-Techniken zu bereichern.
Die Möglichkeit einer „valide[n] Quantifizierung der Leseleistung“, die von Dr. Ritter in Zweifel gezogen wird, ist in der Tat ein schwieriges Feld. Dieselben Texte kann man sehr unterschiedlich lesen – je nach Leseerfahrung, Lebensalter, Ausbildung oder sogar Tageszeit. Gleichwohl konnten wir im Rahmen unseres Trainings innerhalb von 50 Jahren (in Deutschland seit 2001) umfassende und aussagekräftige Erfahrungen in diesem Bereich sammeln. Auch Stiftung Warentest hat im März 2015 unterschiedliche „Schnelllesetrainings“ untersucht. Nach den sehr strengen Maßstäben der Prüfung stellte sich Folgendes heraus: Mit Improved Reading konnte das Lesetempo bei fast gleichem Verständnis auch mehrere Wochen nach dem Kurs noch um über 40% gesteigert werden. [/cs_text][/cs_column]