Von Friedrich Hasse  |  in Speed Reading Trainer Friedrich Hasse

Erzeugt Speed Reading „gefährliches Halbwissen“…?

In meinen Speed Reading-Trainings tragen manche Teilnehmer – vor allem zu Beginn des Kurses – die Befürchtung an mich heran, dass die neuen Lesetechniken zu einer insgesamt oberflächlicheren Art des Lesens und einer „trügerischen Sicherheit“ bei der Aneignung neuer Themenfelder führen könnten – Stichwort „gefährliches Halbwissen“… Darauf möchte ich eine doppelte Antwort geben:

1.) Speed Reading – nicht (zwangsläufig) oberflächlich…

Viele Menschen setzen Speed Reading (oder allgemeiner: Lesetechnik) mit Querlesen oder Diagonallesen gleich. Darum geht es bei uns, d.h. bei Improved Reading, aber nicht. Im Zentrum unseres Ansatzes steht die „Chunking“-Technik, die das Bündeln mehrerer Wörter (meist zwei oder drei) anstelle des Wort-für-Wort-Lesens beinhaltet. Wir nutzen einfach die volle Blickspanne aus, die uns sowieso zur Verfügung steht – und wir lassen bei dieser Technik nichts weg. Beim „Chunken“ (oder zu Deutsch: Erfassen von Sinngruppen) steigt das Verständnis sogar, weil wir dabei sinnvolle Bedeutungseinheiten aufnehmen anstelle bloßer Einzelwörter.

Auch die anderen Speed Reading-Techniken, wie sie von Improved Reading vermittelt werden, stellen einen engen Zusammenhang zur Verständnissteigerung her. Bei der Vermeidung der Regression (häufiges Zurückspringen) geht es etwa auch darum, einen Text in der logischen Folge aufzunehmen – was zweifellos dem Verständnis gut tut. (Eine ausführliche Darlegung der Improved Reading-Techniken ist in unserem „Buch zum Kurs“ zu finden – dem Bestseller zu Lesetechnik.)

2.) Halbwissen – nicht so „gefährlich“, wie Sie denken…

Im zweiten Teil meiner Antwort möchte ich gern den Begriff  „gefährliches Halbwissen“ kritisch hinterfragen – und mit einem provozierenden Statement beginnen: Ich persönlich habe gar kein Problem mit „Halbwissen“ – im Gegenteil! Gern bekenne ich mich dazu, in vielen Bereichen, z.B. in den Naturwissenschaften, nur über ein Halbwissen zu verfügen, möchte dieses jedoch auf gar keinen Fall missen. Das Gegenteil des „Halbwissenden“ wäre vermutlich der „Fachidiot“: also derjenige, der sich in seinem Arbeits- oder Wissensbereich perfekt auskennt, aber kaum jemals über seinen Tellerrand hinausschaut – vielleicht ja genau deshalb nicht, weil er Angst vor dem „gefährlichen Halbwissen“ hat. Er schaut sich also andere Themen lieber gar nicht erst an, um nicht zu riskieren, dass er etwas nicht ganz perfekt verstanden haben könnte.

Das ist schade…denn nicht nur entgehen einem dadurch eine Menge spannender Wissensfelder, sondern auch der Bereich, in dem man eigentlich Experte ist, wird durch mangelnde Querbezüge zu anderen Themen oft nicht in seiner ganzen Dimension erfasst.

Als ausgebildeter Geisteswissenschaftler (Philosoph und Historiker) verfüge ich zum Beispiel über keine besonders fundierten Kenntnisse in den Naturwissenschaften. Dennoch habe ich vor einigen Jahren die renommierte Zeitschrift „Scientific American“ abonniert, um auch in diesem Bereich einigermaßen auf dem Laufenden zu sein. Dort gibt es Beiträge, die ich sehr gut verstehen kann (z.B. zu Archäologie oder Anthropologie), aber auch andere, von denen ich vielleicht nur gefühlte 10% verstehe (Physik, Chemie, Astronomie). Dennoch lese ich diese Artikel (wenn mich die Themen prinzipiell interessieren) und bin stolz auf jeden kleinen Brocken oder jeden übergeordneten Hauptgedanken, den ich dann doch verstehe oder zu verstehen meine – auch wenn ich nicht jede Begründung oder jedes Beispiel nachvollziehen kann.

Letztlich kann Wissensaufbau nur so funktionieren, dass wir irgendwann mal mit einem rudimentären Halbwissen anfangen und dieses allmählich ausbauen. Viele Lernprozesse finden auf „osmotischer Basis“ statt, d.h. durch allmähliche Durchdringung: Wenn wir das erste Mal mit einem Sachverhalt konfrontiert werden, verstehen wir „nur Bahnhof“, wenn wir ihm das zweite Mal in einem anderen Kontext begegnen, ahnen wir schon, was gemeint sein könnte, beim dritten Mal in einem wieder anderen Kontext können wir eine vorläufige, hypothetische Annahme dazu konstruieren, beim vierten Mal können wir zumindest „operativ“ damit umgehen und die daraus resultierenden Schlüsse ableiten usw. Die Voraussetzung für jeden weiteren Schritt ist, dass wir jedes Mal ein vorläufiges Halbwissen akzeptieren – und nicht „die geistigen Rolläden runterlassen“, weil wir die Sache noch nicht komplett verstanden haben.

3.) Zwei echte Probleme mit „Halbwissen“

Problematisch und regelrecht gefährlich wird Halbwissen nur unter der Voraussetzung, dass wir es absolut setzen, was in zweifacher Weise geschehen kann:

a) Wir brüsten uns vor anderen Leuten mit einer Autorität, die uns nicht zusteht – legen also den Status unseres Halbwissens als Halbwissen nicht offen. (Zum Beispiel, wenn ich sagen würde: „Das habe ich aber in ‚Scientific American‘ gelesen“ – ohne offenzulegen, dass ich in dem Fall vielleicht nur 10% davon verstanden habe.)

b) Wir lassen ein einmal erworbenes Halbwissen erstarren und entwickeln oder hinterfragen es nicht weiter. Das ist z.B. häufig in einem politischen Kontext der Fall, wenn einmal erworbene Meinungen – oder irgendwo im Internet aufgeschnappte Einzelfakten – zu dogmatischen Verhärtungen führen, die dann ein regelrechtes Unwissen bzw. „Falschwissen“ bedingen.

Solange es mir gelingt, diesen beiden Fallen auszuweichen, habe ich gar kein Problem mit „Halbwissen“. Und ich bin froh darüber, dass ich mithilfe von Speed Reading-Lesetechniken meine Wissensbasis deutlich erweitern konnte. Dabei spielt einerseits das schnelle, vollständige Lesen auf Basis der Chunking-Technik (s.o.) eine wichtige Rolle; ein weiterer Aspekt des Speed Reading nach der Improved Reading-Methode ist der Einsatz flexibler Lesestrategien, dass ich also bewusst entscheide, ob ich einen Text vollständig lese oder z.B. nur die Hauptgedanken erfassen möchte („skimmen“ oder „paragraphen“). Für mich als „geborenen Perfektionisten“ war das eine Herausforderung…

Gerade beim Einsatz der flexiblen Strategien fällt mir aber immer wieder auf, dass es manchmal leichter fällt, die wesentliche Aussage eines Textes (oder auch: das Interesse, die Meinung, die Stoßrichtung) zu erfassen, wenn ich mich gerade nicht auf die vielen Details einlasse (die oft vom Wesentlichen ablenken), sondern mich auf die Hauptgedanken fokussiere. In diesem Sinn ist das „Halbwissen“ in Gestalt eines auf den Kern reduzierten Wissens nicht selten sogar dichter an der Wahrheit dran als ein vollständiges, aber empirisch „überladenes“ Wissen.

 

 

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