Wie spannend, ausgerechnet in der FAZ mal ein kritisches Wort zur „neoliberalen Selbstoptimierung und […] der endgültigen Kapitulation auch der Geisteswissenschaften vor dem Primat der freien Wirtschaft“ zu lesen – nämlich im Kontext eines Erfahrungsberichts zur Teilnahme an einem Improved Reading-Training an der Goethe-Universität Frankfurt/Main.
Über Sinn und Unsinn der Bologna-Reform, die die deutsche Hochschullandschaft in diesem Sinne gründlich umgekrempelt hat, ließe sich trefflich streiten. Ich persönlich bin froh, mein Philosophie-Studium noch mit Magister abgeschlossen zu haben, obendrein jenseits der Regelstudienzeit und mit erheblichen Freiheiten bezüglich der Auswahl meiner Themen und Texte.
Dennoch habe ich schon als FU-Student ein Lesetraining absolviert – entscheidend war nicht der äußere Druck, ein Maximum an Sachinformationen in mich hineinzustopfen (damals gottlob noch kein Thema in den Geisteswissenschaften), sondern schlichtweg das Interesse am Stoff und die Erkenntnis, dass mein früher sehr langsames Lesen weder dem Textverständnis noch meiner Motivation zuträglich war. Und die Philosophie ist ein Faß ohne Boden, ein Labyrinth von Texten und Kontexten, in dem man sich ohne einen durch umfassende Lektüre angeeigneten Wissensfundus unweigerlich verliert – so wie ein Großteil der (seinerzeit) 95% Philosophiestudenten, die ihr Studium nicht beenden. Vita brevis, ars longa.
Der Autor käme vermutlich nicht auf die Idee, Gedächtnistechniken als neoliberales Teufelszeug zu brandmarken – oder den Verlust der Spontaneität der natürlichen Erinnerung zu bedauern, wenn man sich Begriffe oder Inhalte ganz instrumentell mithilfe von Eselsbrücken, Storytelling, MindMaps, Gedächtnispalästen oder Zahlen-Buchstaben-Systemen einprägt. Welch Anachronismus wäre das auch, hat doch schon Cicero mithilfe der berühmten Loci-Methode seine Reden verinnerlicht; die Technik selbst ist noch älter und geht auf den altgriechischen Dichter Simonides von Keos im 6. Jh. v. Chr. zurück.
Neben der Gedächtnistechnik im engeren Sinn gibt es auch hilfreiche Lern-, Konzentrations- und Kreativitätstechniken. Warum sollte es ausgerechnet beim Thema Lesetechnik für gut ausgebildete Erwachsene nichts dazuzulernen geben? (Zumal angesichts der digitalen Informationsflut ein bloßes „Weiter so durchwurschteln“ mit den alten Routinen de facto noch mehr Stress bedeutet.) Der Autor legt diesen defätistischen Schluss nahe, zieht er doch das Fazit, dass er nach dem Kurs auf jeden Fall genauso lesen wolle wie vorher.
Der spöttische Ton und die Inhaltsleere des Beitrags deuten auf einen klassischen Fall von „self-fulfilling prophecy“ hin. Es ist eine quasi-tautologische didaktische Binsenweisheit, dass eine minimale Bereitschaft zur Selbstveränderung erforderlich ist…wenn man einen Veränderungserfolg erzielen will. Dazu gehört ein Grundvertrauen in die Sache, um die es geht, denn jeder Lernprozess ist mit Rückschlägen und Schwierigkeiten verbunden, die allzu leicht der Technik, dem Lehrer oder anderen äußeren Faktoren angelastet werden, wenn man innerlich ohnehin nicht bereit ist, sich auf das Neue einzulassen. Nur so sind die zahlreichen Missverständnisse zu erklären, die den Beitrag durchziehen und von denen ich hier einige exemplarisch aufgreifen möchte.
Tatsächlich geht es bei Improved Reading auch um die Steigerung des Lesetempos, und die große rote Stoppuhr spielt in dem 2-Tages-Training eine erhebliche Rolle. Was der Autor jedoch komplett unterschlägt, ist die didaktische Dramaturgie des Kurses, die darauf abzielt, am ersten Tag die Geschwindigkeit ganz bewusst auf Kosten des Verständnisses zu forcieren. Dazu dienen zahlreiche Übungen, die ausdrücklich nicht als Lesen, sondern als reine „Augengymnastik“ gedacht sind – ähnlich wie ein Profi-Fußballer nicht den ganzen Tag Fußball spielt, sondern auch Ausdauer-, Konzentrations-, Muskelaufbau- und andere Übungen macht, die für sich genommen kein Fußballspielen sind, dieses jedoch unterstützen und professionalisieren. Am zweiten Kurstag steht der Aufbau des Textverständnisses im Vordergrund, wozu, neben vielen anderen Gesichtspunkten, auch die vom Autor genannte Vorausschau zählt. Falls das Verständnis noch nicht gut sein sollte, empfehlen wir, die Geschwindigkeit jetzt wieder bewusst zu reduzieren – auf ein mittleres Niveau zwischen dem Ausgangstempo und den „experimentellen Geschwindigkeiten“ zwischendurch.
Im letzten Kursviertel soll ausdrücklich so gelesen werden, dass man ein subjektiv gefühlt gutes bis sehr gutes Verständnis hat – und eben nicht einfach nur Multiple-Choice-Fragen beantworten kann. (Wenn der Autor Vorschläge hat, wie man Leseverständnis in einem Gruppentraining ohne erheblichen Zeitaufwand anders ermitteln könnte, mag er uns diese gern mitteilen.) In diesem Kontext sollen die Teilnehmer das von uns verwendete Übungsgerät, den sogenannten „Rate Controller“, auf ein Niveau einstellen, das ihnen beim Lesen eines Textes ein wirklich gutes Verständnis ermöglicht. Völlig frei, ohne jegliche Vorgabe des Trainers. Gleich anschließend lesen sie unwissentlich in ihrem früheren Lesetempo – und werden dann aufgefordert, die beiden Tempowerte zu vergleichen. Sicher wird auch in dem Kurs, an dem der Autor teilgenommen hat, der Unterschied bei den meisten Teilnehmern frappierend gewesen sein: In der Regel wählen die Teilnehmer freiwillig eine Einstellung, die wenigstens 50% über der alten Geschwindigkeit liegt, viele sogar das Doppelte. Und stellen fest, dass das Lesen im alten Tempo typischerweise die Gedanken abschweifen lässt, langweilig ist und zu keinem guten Verständnis führt.
Ein angemessen höheres Lesetempo ist die Voraussetzung für besseres Textverständnis, höhere Konzentration, verbesserte Merkfähigkeit und mehr Spaß beim Lesen. Diese Kernaussage des Kurses würden – meiner 14-jährigen Trainererfahrung nach – mindestens 90% unserer Teilnehmer am Ende unterschreiben. Weil sie sich auf den Veränderungsprozess eingelassen haben.
Der Autor suggeriert ferner, der Kurs sei eine Art Gehirnwäsche, die einem eine völlig andere Art zu lesen – und eben nur EINE Art – quasi aufzwingen wolle. Unsere Hauptbotschaft, die die Trainerin – seit vielen Jahren für unsere Unikurse an der Goethe-Universität Frankfurt zuständig – sicher nicht verschwiegen hat, lautet jedoch, dass wir mehr Flexibilität beim Lesen benötigen, um die Informationsflut zu bewältigen. Wer möchte, kann nach dem Kurs genauso lesen wie vorher – z.B. bei Kafka oder anderen Romanen, um derentwillen sicher die wenigsten Teilnehmer unseren Kurs besuchen.
Meine persönliche Erfahrung ist allerdings, dass man selbst bei „schöner Literatur“ von bewusster Lesetechnik profitiert: Wer Jules Vernes’ Jugendbuch-Klassiker „20.000 Meilen unter dem Meer“ gelesen hat, weiß, wie ermüdend die seitenlangen Ausführungen zur biologischen Taxonomie der Arten, Gattungen und Sektionen diverser Meeresbewohner gelegentlich sind. Wie viele Leser mögen das Buch schon gelangweilt beiseite gelegt haben, weil sie eben nicht in der Lage waren, an solchen Stellen ihre Lesegeschwindigkeit zu modifizieren, d.h. bewusst schneller zu lesen oder auch mal etwas auszulassen, um später, vielleicht mit langsamerer Geschwindigkeit, wieder auf die spannende Haupthandlung einzuschwenken. Und auch wenn ich bei Kriminalromanen eine Vorausschau nicht immer empfehlen würde, so lohnte sie sich doch bei der Lektüre von Dostojewskis „Brüder Karamasow“ – beispielsweise, um vorab darüber informiert zu sein, dass auf den nächsten 50 Seiten ein Exkurs über die Lebensgeschichte des Mönchs Sosima erfolgt, bevor es mit der Haupthandlung weitergeht. Das erhöhte meine Bereitschaft mich darauf einzulassen deutlich, und gleichzeitig habe ich diese Passage mit etwas erhöhtem Tempo, aber dennoch vollständig gelesen. Eine der Haupttechniken des Kurses, das Erfassen von Wortgruppen oder „Chunks“ (vom führenden deutschen Leseforscher Prof. Ralph Radach wissenschaftlich gut belegt) zielt gerade auf schnelles und vollständiges Lesen ab. Der Autor hingegen unterstellt, dass das höhere Lesetempo bei uns großenteils durch schlichtes Weglassen erkauft werde (was auf andere Speed Reading-Techniken, bei denen „Querlesen“ im Vordergrund steht, übrigens durchaus zutrifft).
Achtung, Herr Schulz – Missverständnis im Verzug: Damit meine ich nicht, dass biologische Taxonomien oder biographische Exkurse per se unwichtig seien, genauso wenig wie die Trainerin im Kurs dogmatisch erklärt haben wird, dass man Klammern grundsätzlich weglassen könne oder akademische Texte überwiegend als Geschwätz zu betrachten seien. Es kommt ganz einfach auf die Situation und das Interesse an. Wer sprinten kann, kann auch entspannte Waldspaziergänge machen – aber nicht unbedingt umgekehrt, denn zum Sprinten gehört eben Training. Flexibilität ist das Stichwort.
Ratlos macht mich zu guter Letzt der Vorwurf mangelnder Transparenz („Lizenzverträge!“, „Überprüfbarkeit“ usw.). Es gibt wohl kaum ein Lesetraining oder gar eine Weiterbildung überhaupt, wo die Karten so offen auf den Tisch gelegt werden wie bei uns: In unserem Buch zum Kurs sind alle Kursinhalte 1:1 nachlesbar und können mit den Aussagen des Autors abgeglichen werden. Ein detaillierter Nachweis der wissenschaftlichen Belege für unsere Empfehlungen befindet sich frei zugänglich hier auf unserer Website.
Schade – die Gelegenheit zu einer seriösen Beschäftigung mit einem der vielleicht wichtigsten Bildungsthemen der Zukunft wurde hier verpasst.