Von Friedrich Hasse  |  in Buchrezensionen

Speed Reading-Rezension #1: „Optimales Lesen“ (E. Ott)

Foto: Wunderlich Verlag (Rowohlt), www.rowohlt.de/verlage/wunderlich

In den folgenden Wochen und Monaten werde ich an dieser Stelle Sachbücher zum Thema „schneller lesen“ bzw. „Speed Reading“ vorstellen und Stärken und Schwächen derselben diskutieren.

Beginnen möchte ich mit dem – zumindest im deutschsprachigen Raum – früher weit verbreiteten Buch „Optimales Lesen“ des 1990 verstorbenen Ernst Ott, das erstmals 1972 aufgelegt wurde und bis zum Jahr 2007 immerhin 32 Auflagen erzielte (zuletzt bei Rowohlt erschienen, bis es im dortigen Verlagsprogramm 2008 von Wolfgang Schmitz‘ „Schneller lesen – besser verstehen“, dem Buch zum Improved Reading-Kurs, abgelöst wurde). Heute ist es nur noch antiquarisch erhältlich.

Nicht nur wegen der einst hohen Auflagenzahl starte ich mit diesem Buch, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass hier – von allen zum Thema „schneller lesen“ erschienenen, mir bekannten Werken – vermutlich die größten Übereinstimmungen mit unserem Ansatz zu erkennen sind. (Improved Reading wurde jedoch unabhängig von Ernst Ott und bereits einige Jahre vor Erscheinen seines Buchs in Australien entwickelt.) Daher seien zunächst genannt die:

Stärken/Pluspunkte von „Optimales Lesen“:

  1. Sehr praxisorientiert: 25 Lektionen mit zahlreichen Übungen und mehreren (fünf) Lesetests, die eine Kontrolle des Lernfortschritts ermöglichen. Letztere sind jedoch sehr ungleich verteilt (drei davon befinden sich in den letzten vier der 25 Kapitel), und die Bewertung des Textverständnisses erfolgt teils nach ziemlich subjektiven Kriterien, die sich von Test zu Test unterscheiden und daher kaum vergleichbar sind.
  2. Der Schwerpunkt wird – wie bei uns – auf das Training der Blickprozesse gelegt – insbesondere auf die „Normalisierung der Blickspanne“, also das Erfassen von Wortgruppen und die Vermeidung von Regression; dabei wird der Text immer noch vollständig erfasst, nur mit effizienteren Blickbewegungen. Dies steht in erfreulichem Kontrast zu den meisten gängigen „Speed Reading“-Büchern, die effiziente Lesetechnik primär mit Querlesen, Diagonallesen und „Mut zur Lücke“ in Verbindung bringen.
  3. Es werden (wie bei uns) nur solche Techniken vermittelt, die prinzipiell von jedem erlernbar und wissenschaftlich untermauert sind – keine „Esoterik“!
  4. Auch Übungen und Tipps zur Erhaltung und Verbesserung der Sehkraft sind enthalten (Augenentspannung, Augenbeweglichkeit), wenn auch sehr knapp (S. 36).

Schwächen/Minuspunkte von „Optimales Lesen“:

    1. Wenn gleich zu Beginn (S. 9) als positives Beispiel John F. Kennedy mit einem Lesetempo von 1.200 Wörtern pro Minute hervorgehoben wird – ohne Hinweis darauf, dass solch hohe Lesegeschwindigkeiten Ausnahmeerscheinungen sind und in der Regel, zumal aus bloßem Selbststudium, nicht zu erwarten sind -,  werden falsche Erwartungen geweckt. Der Vergleich mit derartigen Spitzenleistungen Einzelner verdeckt das enorme Potenzial, das sich bereits aus „bescheidenen“, dafür aber realistischen Steigerungen im Bereich 30-100% übers Jahr hinweg ergibt, jedenfalls für all diejenigen, die täglich mehrere Stunden lesen müssen oder wollen.
    2. Es ist nur vom lauten Mitsprechen bzw. Vokalisieren die Rede (dieses sollte komplett vermieden werden), das allerdings beim Gros der gut ausgebildeten Erwachsenen kaum noch eine Rolle spielen dürfte. Wie aus vielen im Netz verfügbaren Rezensionen zu ersehen ist, wird das Vokalisieren denn auch von vielen Lesern mit dem Subvokalisieren verwechselt, das aus unserer Sicht lediglich reduziert werden sollte, aber nach wie vor „zulässig“ ist – vor allem mit Blick auf die bedeutungstragenden Wörter und schwierigere Textstellen. Wird jedoch aufgrund dieser mangelnden Differenzierung die falsche Schlussfolgerung gezogen, das Subvokalisieren sei komplett zu eliminieren, führt dies schnell zu Frustrationserlebnissen (in seltenen, schlimmsten Fällen sogar zu Lesefehlern oder gar zum Verlernen des Lesens selbst).
    3. Bei der Übung zum Antiregressionstraining ist nicht so recht einzusehen, warum das Bezugswort manchmal am Anfang, in der Mitte oder am Ende steht, so dass man (in den letzten beiden Fällen) zum Zurückgehen gerade gezwungen wird. Das würde ich als eher kontraproduktiv einschätzen.
    4. Die Übungen wirken äußerst eintönig: Im Bereich „schnelles Lesen“ gibt es eigentlich nur drei, nämlich „Normalisierung der Blickspanne“, „Antiregressionstraining“ und „Sprung-Lese-Übung“, und diese ändern sich im Verlauf des Buches kaum. Klar, Wiederholungen / ein „Einschleifen“ der neuen Blickprozesse sind notwendig, auch bei uns! Aber die Kunst bestünde darin, dies mit intelligenten Abwechslungen und einem motivierenden Feedback zu verbinden.
    5. Vor allem aber wird fast nichts zum Thema „Lesestrategien“ gesagt, d.h.: Wie gehe ich an einen Text heran? Wie bereite ich mich auf die Lektüre vor? oder: Welche unterschiedlichen Lesestrategien gibt es überhaupt? Das entsprechende Kapitel „Studierendes Lesen“ (S. 189) ist äußerst kurz und gibt eigentlich nur Allgemeinplätze wieder.
    6. Ebenso dürftig und oberflächlich wird das Thema „Gedächtnis“ abgehandelt.
    7. Was wohl für die größte Ernüchterung sorgen dürfte, ist die Tatsache, dass der automatische Lernerfolg und die sofortige Umsetzbarkeit der Empfehlungen scheinbar als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Es gibt daher so gut wie keine Tipps dazu, WIE man denn die genannten Ziele erreichen solle (z.B. die Normalisierung der Blickspanne), und es wird auch mit keinem Wort auf den Verlauf des Lernprozesses mit seinen Höhen und Tiefen eingegangen. Der Leser muss sich daher zwangsläufig ziemlich alleingelassen fühlen, was nicht wirklich motiviert…
    8. Insgesamt wirkt das Buch daher recht unstrukturiert und die Wahl der Themen eher zufällig, was auch dadurch illustriert wird, dass ein Inhaltsverzeichnis – das wichtigste „Sinnsignal“ in einem Sachbuch – komplett fehlt.

Ernst Ott: Optimales Lesen, Wunderlich Taschenbuch, Neuausgabe Mai 2002, ursprünglich (und zuletzt 2007) veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, September 1972.

Wie bewerten Sie unser Buch zu „Speed Reading“ im Vergleich zu dem hier besprochenen? Testen Sie uns, und schreiben Sie mir!

 

 

Schreibe einen Kommentar