Selten ist mir die existentielle Bedeutung des Lesens deutlicher geworden als in diesen seltsamen Wochen der Corona-Pandemie, des Lockdowns und der grassierenden Unsicherheiten. Welchen Nutzen hat es, angesichts von Corona schneller lesen zu können? Gibt es einen solchen überhaupt? Schließlich ist das Wort „Entschleunigung“ gerade jetzt in aller Munde…
Zwei Aspekte sind mir im Zusammenhang von „Corona“ und „Speed Reading“ deutlich geworden:
- ) Gerade in der Anfangsphase der Pandemie, als es galt, sich in kürzester Zeit auf eine völlig veränderte Situation einzustellen, fand ich es ausgesprochen hilfreich, schnell lesen zu können: Es ermöglichte mir, ein breites und vielfältiges schriftliches Nachrichtenangebot zu nutzen. Dabei fand ich gerade die internationalen Medienberichte, teils auf Französisch oder Spanisch, sehr eindrucksvoll: Sie führten mir das globale Ausmaß der Pandemie und ihre unterschiedliche Handhabung an unterschiedlichen Orten vor Augen. Besonders interessierten mich die wesentlich schärferen Restriktionen von Freiheitsrechten z.B. in Frankreich und in vielen afrikanischen Ländern. (Wenn ich dann das fröhliche Treiben der Menschen in der Frühlingssonne auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof in meiner Nachbarschaft in Berlin-Neukölln beobachtete, fühlte ich mich erst recht wie auf einer „Insel der Seligen“…)
- Andererseits spürte ich irgendwann, dass es nicht nur wichtig war, gut und breit informiert zu sein – sondern auch, einfach mal abzuschalten. Der „Overkill“ ständig neu aufpeitschender Katastrophen-Nachrichten geht einem irgendwann „an die Nieren“ und schlägt aufs Gemüt – ein bisschen Eskapismus oder Weltflucht muss einfach sein in Corona-Zeiten. Um so glücklicher war ich, wenn ich mit einem guten Roman im Sessel versinken konnte, um mich dieser seltsamen neuen Realität, in die wir so plötzlich hineingeschleudert wurden, einfach mal mit Lesen zu entziehen. Warum dann schnelles Lesen? Weil es hilft, die Dinge um sich herum zu vergessen. Wenn wir – angemessen – schnell lesen, sorgen wir dafür, dass unser Gehirn tatsächlich nur damit beschäftigt ist. Beim langsamen Lesen in durchschnittlicher Geschwindigkeit (200-250 Wörter pro Minute) schweifen unsere Gedanken häufig ab, einfach, weil das Gehirn zu viel Möglichkeiten hat, sich mit etwas anderem zu befassen. Und gerade in Zeiten der Pandemie gibt es sicher genug Themen, die uns belasten…und die wir gern mal „auf Abstand halten“ wollen. Schneller lesen als „mental distancing“.
Hier ein paar Buch-Tipps fürs „Lesen, um in anderen Welten zu versinken“ – die ersten zwei allerdings ganz „dicht am Thema“:
- Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. 100 Geschichten, die sich eine Gruppe junger Menschen erzählen, um sich während der selbstgewählten Quarantäne in einem Landhaus im Jahr 1348 die Zeit zu vertreiben, während in Florenz die Pest wütet.
- Albert Camus: Die Pest. Ein philosophisch-existenzialistischer Blick darauf, wie unterschiedlich Menschen auf eine solche Extremsituation reagieren – und dass selbst im Moment größter Unfreiheit noch die Möglichkeit autonomen Handelns gegeben ist.
- Ken Follett: Die Säulen der Erde. Ein klobiger Page-Turner, der Dich in eine mittelalterliche Parallelwelt des Kathedralenbaus, des Hexenwahns und der Lebenswelt der bitterarmen, einfachen Handwerker entführt. Vielleicht hast Du jetzt endlich Zeit dafür?
- Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. Ein monumentales Geschichts-, Familien- und Liebesdrama über Russland zur Zeit der Napoleonischen Kriege (1805-12) – mit ca. 2.000 Seiten definitiv ein Roman, für den man selbst mit Speed Reading-Technik einfach viel Zeit braucht. Hier findest Du einige Hinweise auf einen berühmten Witz von Woody Allen – und was Dir Speed Reading trotzdem für Tolstois Meisterwerk bringt.
Eigene Lektüre-Ideen? Ich bin immer neugierig – schreibt mir gern.
Bildquelle: Engin Akyurt (https://pixabay.com/photos/mask-coronavirus-quarantine-virus-5008646/)